"Fast nackt" - vom Versuch ethisch korrekt zu leben
Von Claudia am Dez 10, 2006 | In Rezensionen
Leo Hickman ist Journalist beim britischen Guardian. Er hat ein schwieriges Experiment gewagt: Mit seiner Familie hat er versucht, ein Jahr lang ohne schlechtes Gewissen zu leben. Welche Erfahrungen er dabei gemacht hat, dokumentierte er in seiner Kolumne Ethical Living und auch in einem am?santen Buch: "Fast Nackt - Mein abenteuerlicher Versuch ethisch korrekt zu leben".
Ethisch (und ökologisch) korrekt leben fängt vielleicht beim Bio-Apfel an, hört aber längst nicht bei der Stoffwindel oder dem Abschalten des Stand-By-Fernsehers auf. Diese Erfahrung musste auch Hickman machen, als er sich, um sein Experiment auf eine solide Basis zu stellen, Berater ins Haus holte, die seine Gewohnheiten unter die Lupe nahmen und Empfehlungen für Alternativen aussprachen. Hickman hat sicher auch vorher nicht wie eine Umweltsau gelebt, aber er selbst h?tte nicht gedacht, wo "bedenkliche" Verhaltensweisen lauern. Und so waren seine Frau und er unglaublich nervös, als sich die Berater ankündigen: "Am Abend bevor die ethischen Berater eintreffen, frage ich Jane, ob auch wir unser "letztes Abendmahl" zu uns nehmen sollen, bevor unser Leben auf den Kopf gestellt wird. Um sich Anregungen zu holen, studieren beide, welches Essen Todeskandidaten vor der Hinrichtung zu sich nahmen. "Das ist vermutlich ein wenig geschmacklos, aber wir fühlen uns schutzlos ausgeliefert. [...] Sie können unseren Stresslevel interpretieren, wie Sie wollen, aber wir haben vor der vorstehenden ehtischen Beratung so viel Angst, dass wir, stat uns wie üblich selber etwas zu kochen, die gesamte Speisekarte des indischen Takeaways rauf und runter bestellen und dann alles genüsslich aufessen, [...]."
Prompt haben die Berater natürlich viel zu kritisieren, vom Körperdeo über die Wegwerfwindeln bis hin zum Bankkonto bei der Bank (Vorwurfsvoller Beraterton: "Wie viele Leute würden ihr Geld in eine Unternehmen stecken, das Waffen an eine Dikatatur verkauft?") Hickman und seine Frau versuchen bestmöglich alles umzusezten, wobei die Einkaufsgewohnheiten noch am einfachsten sind. Aber auch beim Einkauf von ?ko-Obst stellt sich die Frage, ob der Bio-Apfel aus Argentinien nicht wegen des Transports bedenklich ist. Sehr amüsant der Ratschlag in punkto Fleisch: "Ich wende mich an Mike, und frage ihn, ob er Fleisch isst. 'Nur von einem Tier, das auf den Hügeln und Weiden in meiner Umgebung aufgewachsen ist', erwidert er. Ich blicke aus dem Fenster und sehe, wie eine in London aufgewachsene Taube in unserem Garten landet. Da musste ich ziemlich grinsen und erinnerte mich an einen Bio-Prof: "Die Tauben hier in der Stadt würde ich nicht mal mit Handschuhen anfassen." Ja, gar nicht so einfach mit dem "korrekten" Leben.
Das Buch ist unglaublich kurzweilig (dennoch nicht flach) und urkomisch geschrieben. Hickman hat auch die Rückmeldungen seiner Leser mit einflie?en lassen. Eine Leserin erzählt ihm von ihren selbstgehäkelten Spültüchern und bietet ihm eines an. Seine Gedanken dazu: "Ich stehe ehrlich gesagt immer noch unter Schock, dass es tatsächlich Menschen gibt, die ihre Spültücher selber häkeln - , aber ihr Brief wärmt mir das Herz."
Als der Wurmkomposter im Garten Probleme bereitet, ruft Hickman bei der "Wiggly Wigglers"-Hotline an: [...]ich lege auf, wobei ich einen Moment lang den Gedanken auf mich wirken lasse, dass ich gerade eine Wurm-Hotline angerufen habe. Darf man das seinen Freunden gegenüber zugeben oder behält man seine Wurmprobleme lieber für sich?
Das Buch sprüht vor Selbstironie und regt dennoch zum Nachdenken an. Es zeigt, dass manche Aspekte schwer umzusetzen sind. So überlegen Hickman und Frau, ob sie wirklich den Kredit für's Haus umschulden sollen, weil ihre derzeitige Bank nicht ehtisch korrekt arbeitet. Das würde beiden eine ganze Stange Geld kosten. Auch wenn Hickman zugibt, dass ihm auch nach einem Jahr das Putzen der Toilette mit Essig und Zitrone schwer föllt: Das meiste ist f?r ihn mittlerweile normaler Bestandteil seines Lebens. Er bem?ht sich weiterhin, ethisch korrekt zu leben, auch wenn er auf Dauer nicht auf Fern-Flugreisen verzichten mag.
Beim Lesen konnte ich häufig nicken, habe vieles am?siert in Gedanken bestätigt. Und so manche Gewohnheit darf man ruhig mal hinterfragen. Warum vertraue ich eigentlich einem Deo mit "Aluminium Chlorohydrate" mehr als einem Deo mit natürlichen ?therischen Ölen? Dabei riecht das Weleda-Deo besser und ich muss beim Spr?hen nicht immer gleich husten.
Momentan geht es bei mir in der Küche rund: Ich habe ein Strommessgerät und teste alle möglichen Geräte durch. Nicht, dass ich mich nicht schon vorher für all die angesprochenen Themen interessiert hätte, doch Hickman hat die Themen so locker-flockig angesprochen, dass man gar nicht anders kann, als die eigenen Gewohnheiten zu überdenken.
Hier die Buchhandelsinformation:
Leo Hickman
Fast Nackt. Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben (Broschiert)
Pendo-Verlag, 2006.
318 Seiten
Weitere Rezensionen
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M. Vollborn und V. D. Georgescu: Die Joghurtl?ge - Die unappetitlichen Geschäfte der Lebensmittelindustrie
Erich Wagenhofer: We Feed The World
10 Kommentare
Das Husten kannst du vermeiden, wenn du einen Roller benutzt, aber ich bin wegen der mangelnden Wirkung von den nat?rlichen ?therischen ?len wieder abgekommen ;-).
Ja, Deo-Roller w?re konsequent, aber ich finde die Dinger ziemlich eklig. ?ber mangelnde Wirkung kann ich bei Weleda nicht klagen.
Ich lese seine Kolumne immer im Greenpeace-Magazin und mein Bruder bekommt das Buch von ihm zu Weihnachten. Ich bin mal gespannt wie es ihm gef?llt. (Leider kann ich mit meiner Blog-URL von 20six keine Kommentare hinterlassen. Deshalb versuch eich es mal mit meiner HP. Blog: http:\\20six.de/Kaffeebohne)
Scheinbar bleibt man(n)auch schlank dabei ;)
Danke f?r den Buchtipp!
Liebe Claudia,
nur zum besseren Verst?ndnis und nicht das wir uns mis(t)verstehen: an dem Tag, an dem Du hier ein Rezept von hanseatischer Freistadttaube servierst, muss ich Dir leider die Blogfreundschaft k?ndigen!
Mit lieben Gr??en
creezy
;-)
Danke f?r den Tipp! Ich liebe "schr?ge" B?cher und habe es schonmal in meinen Amazon Einkaufswagen gepackt.
Celia
"Warum vertraue ich eigentlich einem Deo mit "Aluminium Chlorohydrate" mehr als einem Deo mit nat?rlichen ?therischen ?len?" Die Erkl?rung liegt auch in der unterschiedlichen Wirkungsweise, weil "Aluminium Chlorohydrat" antitranspirierend wirkt und dein Deo dann n?mlich zum Antitranspirant mit desodorierender Wirkung wird. Die nat?rlichen ?therischen ?le (in Alkohol! gel?st) dagegen wirken nur desodorierend und mindern nicht das Schwitzen.
@Ulrike: Danke f?r die Ausf?hrungen. War aber eigentlich eine rhetorische Frage, die darauf gem?nzt war, den Versprechungen der Werbung mehr zu vertrauen als den Produkten, die h?herwertige Inhaltsstoffe haben, f?r die aber kaum geworben wird. Schlie?lich versagen h?ufig auch die Antitranspiranten ... Und Aluminium Chlorohydrat ist zudem nicht ganz unumstritten ...
Selbstverständlich sind Äpfel aus Argentinien bedenklich, dafür hätte ich keinen Berater gebraucht. Und wer meint, Fleisch essen sei auch nur ansatzweise ethisch korrekt, hat seine Glaubwürdigkeit schon verspielt.
@Mesiu: Wieso ist Fleisch essen für Gutmenschen verboten? Ich hab gerade Linsen mit Speck gegessen und würde gerne wissen, wieso ich jetzt ein schlechter Mensch bin.
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